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Sibelius Quartett

Das Streichquartettrepertoire ist grenzenlos!

Vor kurzem haben wir – nach 34 Jahren – ein Meisterwerk des frühen 20. Jahrhunderts neu einstudiert: das Quartett in d-moll op. 56 “Voces intimae” von Jean Sibelius. Komponiert wurde es 1908/09, also zu einer Zeit in der Schönberg erste Versuche in Richtung Atonalität wagte und Strawinsky eine neue, antiromantische Musiksprache entwickelte. Sibelius scheint dagegen auf den ersten Blick konservativ, in der romantischen Tradition verhaftet. Das hat ihm seinerzeit viel Kritik eingebracht, die prominenteste vielleicht die von Theodor Adorno. Dieser schrieb in einer Glosse folgendes:

“….studiert man die Partitur (etwa der vierten und fünften Symphonie), sie sehen dürftig und böotisch aus und man meint das Geheimnis könne sich nur dem leibhaftigen Hörer erschließen. Aber der Klang ändert nichts an dem Bild. Das sieht so aus: es werden Themen, irgendwelche Tonfolgen aufgestellt….Diesen Tonfolgen widerfährt sehr früh ein Unglück, etwa wie einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen… Symphonien sind keine tausend Seen auch wenn sie tausend Löcher haben… (Die Musik) spielt in einer unordentlichen Schulstunde, wo während der Pause die Halbwüchsigen ihre Genialität unter Beweis stellen, indem sie Tintenfässer ausgießen. Keine Palette: alles nur Tinte….mathematisch lassen gewiss die tonalen Akkorde noch ungezählte neue Kombinationen zu. Aber sie sind scheinhaft und unecht geworden: sie dienen der Verklärung einer Welt an der nichts mehr zu verklären ist und keine Musik hat mehr den Anspruch geschrieben zu werden, die nicht dem kritischen Angriff aufs Bestehende bis in die innersten Zellen ihres technischen Verfahrens vortrüge….Dass man fundamental altmodisch und dennoch ganz neu komponieren könne: das ist der Triumph den der Konformismus angesichts von Sibelius anstimmt”

Aber hat Adorno Recht? Ist diese Musik wirklich rückwärts gewandt, konformistisch und epigonal?Richtig ist, dass Sibelius im Gegensatz zu Schönberg, die alten, romantischen Grundlagen benutzt, vor allem die tonale Harmonik. Aber Adorno verkennt dabei, dass er daraus etwas ganz Neues und sehr Modernes macht. Nämlich, indem er“romantische” Floskeln und Harmonien so zusammen setzt, dass keine vertraute Sprache, keine Geschichte entsteht. Da laufen harmonische Wendungen ins Leere, Kadenzen führen nicht zur erwarteten Auflösung, bricht die Musik plötzlich ab oder wiederholt sich ständig,fast wie in der heutigen minimal music. Sibelius misstraut der konventionellen Sprachfähigkeit von Musik, er dekonstruiert sie, etwa so wie James Joyce Wörter und Sätze zusammensetzt, so dass ein rätselhaftes, assoziatives Muster entsteht, ein innerer Monolog, der in seiner Ganzheit nur vom Autor selbst verstanden werden kann. Auch der Titel des Quartetts – “ voces intimae” (innere Stimmen) – deutet ja darauf hin…Es ist eine sehr einsame Musik, immer wieder scheint Sprache und Kommunikation entstehen zu wollen, um dann doch wieder zu scheitern. Selten haben wir uns beim Einstudieren eines neuen Werkes so schwer getan – es gab endlose Diskussionen über die Interpretation: Soll man die “tausend Löcher” überspielen, durch schnelle Tempi Zusammenhänge herstellen, die Sprache und den Sinn sozusagen erraten und ergänzen oder lieber die Brüche extra herausarbeiten, die Zerrissenheit und Verzweiflung. Inzwischen haben wir das Quartett ein paar Mal im Konzert gespielt, es ist uns vertrauter geworden, und wir hoffen, eine überzeugende Interpretation gefunden zu haben.

Die nächste Aufführung ist am

1. November um 17 Uhr im Robert-Schumann-Saal in Düsseldorf

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